Getragen von Wind und Adrenalin
Von Duisburg über Weener nach Bensersiel: Zehn Stunden im Sattel mit Hardy Grüne
Duisburg/Bensersiel | Samstag, 17. Juni 2017 | RZ
Das Rheiderland trägt sein grauberüschtes Himmelskleid, als wir nach knapp acht Stunden Weener erreichen. Dazu weht ein tüchtiger Wind, aber den muss man im Rheiderland ja nicht extra erwähnen. Immerhin kommt er aus Süden und schiebt uns sanft durch die schöne Kleinstadt Richtung Leer. Getragen von Wind und Adrenalin fliegen wir förmlich. Noch 80 Kilometer bis zum Ziel. Nur noch 80 Kilometer bis zum Ziel!
Um 4.30 Uhr in der Früh sind wir in Duisburg aufgebrochen. 462 Radler mit dem Fernziel Bensersiel. Dazwischen: 300 Kilometer. An einem Tag. Kein Katzensprung mit dem Auto, eine Königsetappe auf dem Fahrrad. Die Ruhr2NorthSea-Challenge gibt es seit 2014, und trotz der gewaltigen Distanz sind es in jedem Jahr mehr Radverrückte, die sich auf den Weg machen. Ich bin zum ersten Mal dabei. Und habe großen Respekt. Obwohl ich schon durch Afrika und Südamerika geradelt bin, ging meine längste Tagesetappe über lediglich 208 Kilometer. Das war in Botswana in Afrika, und damals kam ich quasi auf dem Zahnfleisch ins Ziel. Doch nun will ich es wissen. Will wissen, wie es sich anfühlt, eine Distanz zu überbrücken, die schon beim bloßen Hinsehen als unüberwindbar erscheint.
Es ist ein bunter Haufen, der sich am frühen Samstagmorgen vor dem Duisburger Fußballstadion versammelt. Der Jüngste ist 15, der Älteste stolze 71. Gefahren wird nahezu alles, was die Fahrradindustrie entworfen hat: spartanisch ausgestattete Rennboliden mit kaum sechs Kilogramm Gesamtgewicht, solide Treckingräder, denen man die Reiseerfahrung ansieht, rustikale Mountainbikes, deren Noppenreifen auf dem Asphalt wie Hummeln summen. Dazu Exoten wie zwei selbstgebaute Fahrrad-Chopper ohne Gangschaltung, ein Liegerad, ein Tandem sowie ein paar E-Bike-Chauffeure. Für sie stehen unterwegs Ladestationen bereit. Alle 50 Kilometer gibt es eine Versorgungsstelle, für die Navigation braucht es ein GPS-Gerät. Die grobe Richtung ist ohnehin klar: Norden.
Auch das Fahrerfeld ist bunt und vielschichtig. Es gibt sehnige Hungerhaken in kunterbuntem Lycra ebenso wie gemütliche Wohlstandsbäuche in bequemer Freizeitbekleidung. Zwar schwingen sich deutlich mehr Männer auf ihre Räder, doch auch Frauen in allen Altersklassen sind dabei. Startblöcke nach Durchschnittsgeschwindigkeiten sorgen für eine erste Vorsortierung des Teilnehmerfeldes. Vorne lauern die, die sich durchschnittlich 38 Kilometer pro Stunde (km/h) und mehr über 300 Kilometer zutrauen. Ganz am Ende warten jene, die bei einem Durchschnittstempo von 18 km/h auf ein Ankommen in Bensersiel bis spätestens 23 Uhr hoffen. Für Notfälle gibt es einen Besenwagen.
Duisburg schläft noch tief und fest, als wir aufbrechen. Ich habe mich bei »25 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit« eingeordnet und rechne bei zwölf Stunden Fahrt- plus zwei Stunden Pausenzeit mit einer Ankunft gegen 19 Uhr. Noch ist die Sonne hin-ter dem Horizont versteckt, blinzelt Duisburg im fahlen Licht der Straßenlampen. Einige Fahrer haben Lichtanlagen dabei und leuchten dem Peloton den Weg durch die ausgestorbenen Straßen. Kaum eine Menschenseele ist um diese Zeit unterwegs, und nach einer halben Stunde verlassen wir bereits die Stadtgrenze und tauchen ein in ein Bild, das uns über viele Kilometer begleiten wird. Geprägt von Landwirtschaft und unergründlicher Weite ist es garniert von herzhaft ländlichen Gerüchen. Die Ruhr2NorthSea-Challenge ist auch eine Reise durch das nordwestdeutsche Hinterland.
Sofort zerfasert das Fahrerfeld. Erste Gruppen bilden sich. In der Ferne sehe ich die schnellen Rennfahrer, die auf Zeit fahren, obwohl die Ruhr2NorthSea-Challenge ausdrücklich kein Rennen ist. Den Männern auf ihren schlanken Rennrädern ist das egal. Schon um 14.13 Uhr wird der erste von ihnen in Bensersiel eintreffen.
Etwa um dieselbe Zeit erreiche ich das Rheiderland. Längst ist mein Altrekord von 208 Tageskilometern gebrochen und die Stimmung prächtig. Das Wetter großartig, der Südwind gnädig, das Teamwork phantastisch. So fällt Kilometer um Kilometer, werden die Beine zwar schwerer, sorgen Adrenalin und stolze Vorfreude aber dafür, dass der Spannungsbogen nicht abfällt.
Die Landschaft macht es nicht leicht. Hinter Nordhorn wurden die Straßen schnurgerade und endlos. Eine tödliche Kombination auf dem Rad. Die meisten Teilnehmer gehen die tückische mentale Herausforderung in emsiger Gruppenarbeit an. Ich bin mit fünf weiteren Fahrern unterwegs. Regelmäßig wechseln wir uns in der Führungsarbeit ab, und so endet auch die längste Gerade irgendwann einmal in einer Kurve oder dem nächsten Versorgungsstopp.
Kurz vor Leer kommt unser Tross zum Stillstand. Die Jann-Berghaus-Brücke ist hochgezogen. Verschnaufpause für alle. Erstmals breitet sich das Gefühl aus, diese Mammuttour tatsächlich zu schaffen. Schließlich sind es nur noch 60 Kilometer. Eine Mischung aus Stolz, Erleichterung und konzentrierter Energie flutet den Körper.
In Esens erwischt uns die kalte Dusche. Wortwörtlich. So schnell, wie er es nur an der Nordsee kann, öffnet der Himmel seine Schleusen und setzt uns unter Wasser. Wir schütteln lachend die Köpfe vor Fassungslosigkeit. Zehn Kilometer noch bis zur Endstation Sehnsucht - und nun schlittern wir pitschnass durch meterbreite Pfützen. Hinter Esens dünnt der Regen aus, und als wir die letzte Kurve zum Fährhaus in Ben-sersiel nehmen, lugt sogar noch einmal die Sonne durch die Wolkendecke.
300 Kilometer Radfahren an einem Tag. Wenn ich es auf der Landkarte anschaue, bin ich noch immer fassungslos. Mein Bordcomputer wirft eine Fahrtzeit von zehn Stunden und zwölf Minuten für -exakt- 305 Kilometer (inklusive Umwege) aus. Ein Traumtag endet mit einer persönlichen Fabelzeit.
Epilog: 95 Prozent der 462 Starter kamen in Bensersiel an; der letzte um 23.12 Uhr. Während viele Teilnehmer den Sonntag noch am Strand verbrachten, drehte ein Fahrer der Spitzengruppe in Bensersiel gleich wieder um und fuhr mit dem Fahrrad zurück nach Duisburg. Verrückt!